Lieber Herr Heiligenhaus,
das wird jetzt sehr träumerisch, aber ich erlaube mir das zum Abend mal:
Oh. Oh. Oh. Da klingeln bei mir alle Glocken. Mit
gleichem Recht könnte
man sagen: Weg mit den "klassischen Bibliothekskatalogen". Die sind für
die analoge Welt und müssen nun angepaßt werden. Wir brauchen
Strukturdaten in den Katalogen. Wir brauchen Volltexte in den
Katalogen. Warum diskutieren wir noch über den Umstieg von MAB2 zu
MARC21? Alles Schnee von gestern. Weg mit dem Quatsch. (Ernsthaft
betrachtet ist das gar keine schlechte Überlegung. Die Trennung von
Katalog und Repository könnte tatsächlich irgendwann ganz wegfallen.
Aber wann ist dieses "Irgendwann"? Und sollen wir tatsächlich fordern,
daß sich die Welt um uns herum ändern muß, damit wir auch Zeitungen im
Viewer präsentieren können?)
Wenn das ernsthaft betrachtet keine schlechte Überlegung ist, warum betrachten wir es dann
nicht ernsthaft? :)
Vielleicht brauchen wir auch nicht Strukturdaten und Volltexte in den Katalogen der
analogen Welt, sondern analoge Medien in den Katalogen der digitalen Welt? Aktuell gibt es
zig Verbünde, unzählige Lokalsysteme und etliche Spezialverzeichnisse für diverse
Medientypen - alles mit der Begründung, dass die jeweils anderen Kataloge den Bedürfnissen
des Medientyps nicht gerecht werden. Nun werden offensichtlich alle Kataloge den
Bedürfnissen der Digitalisate nicht gerecht, aber plötzlich sollen sich nicht mehr die
Kataloge, sondern die Digitalisate anpassen...
(Was jetzt kein Plädoyer für eine noch größere Vielfalt an Katalogen sein soll - siehe
mein Schlussstatement.)
Hm. Also lösen ZVDD und DigiZeit die Kataloge als
primäre
Recherchequellen perspektivisch ab? Interessant. Das sag ich demnächst
mal dem einen oder anderen Katalogisierer, den ich so kenne. ;)
Ich frage mich: wenn man es nicht einmal schafft, alle analogen Medien einheitlich in
einem einzigen Katalog zu verzeichnen, warum müssen dann die Digitalisate zwingend in den
OPAC, den Verbund oder die ZDB? Natürlich ist das aus Nutzersicht besser als noch einen
neuen Katalog neben das vorhandene Dutzend zu stellen. Aber dem Nutzer ist auch nicht
geholfen, wenn er dann im Katalog lediglich einen Eintrag für die gesamte Zeitung findet
und sich anschließend mühsam durch etliche Navigationsebenen hangeln muss, bevor er einen
konkreten Artikel auf dem Bildschirm hat. Und dabei muss immer vorausgesetzt werden, dass
er bereits genau weiß, welche Ausgabe welchen Datums von welcher Zeitung er überhaupt
betrachten will - andernfalls hilft ihm der Katalog und Ihre Strukturierung nämlich auch
nicht weiter.
In sofern sehe ich die Perspektive gar nicht so unrealistisch, dass ZVDD u.ä. Systeme
künftig tatsächlich die Rolle von primären Katalogsystemen spielen werden - nur eben nicht
für analoge Medien, sondern für Digitalisate. Einfach deshalb, weil sie dem Nutzer all die
Möglichkeiten anbieten, die wir im Datenformat so mühsam angelegt haben: Volltexte,
Strukturdaten, Beziehungen zwischen den Werken, etc.
Was ist das Modell, das wir den konkreten
Erscheinungsformen
von Publikationen, die wir summarisch Zeitungen nennen, überstülpen,
damit wir sie unter einem einheitlichen Gesichtspunkt erschließ- und
präsentierbar machen? Für den Viewer konkretisiert: Wie wünschen wir
uns eine Standardnavigation durch diese Ansammlung von tausenden von
Seiten die über Jahrhunderte hinweg in sehr regelmäßiger Form
erschienen sind?
Wie eine solche Standardnavigation aussieht, sollte aber nicht im Datenformat
festgeschrieben werden, sondern dem Präsentationssystem überlassen werden (was nicht
heißt, dass wir dazu nicht Empfehlungen formulieren können). Das Datenformat muss nur
sicherstellen, dass alle nötigen Informationen vorhanden sind.
Wir müssten also eigentlich zwei Dinge tun: ein Datenformat spezifizieren, das möglichst
allen Bedürfnissen gerecht wird (und nicht nur einer "Standardnavigation"), und
Empfehlungen zur Implementierung des Formats formulieren (bzw. eine entsprechende
Referenzimplementierung schaffen - die der DFG-Viewer in diesem Fall definitiv nicht ist).
Ich halte aber nicht viel davon, bereits im Datenformat solche Empfehlungen
festzuschreiben.
Hm. Das halte ich nicht für sinnvoll. Wir würden damit
für einen
Publikationstyp sagen: Das ist ein Haufen von Seiten in einem Haufen
von Tagen. Anzeigen kann und will ich den nicht.
Es besteht offensichtlich eine Lücke zwischen einer Zeitung (die im Katalog nachgewiesen
ist) und ihren Ausgaben (die problemlos im Viewer dargestellt werden können). Diese Lücke
muss mit irgendeiner geeigneten Form von Navigation gefüllt werden, die es dem Nutzer
erlaubt, vom Katalogisat der Zeitung zur Anzeige einer Ausgabe dieser Zeitung zu gelangen.
Diese Lücke im Retrievalsystem ist aber genau das: ein fehlendes Feature der Systeme und
keine Unzulänglichkeit des Formats. Ich sehe das wie Herr Enders: mit den aktuellen
Mitteln kann eine Zeitung bereits modelliert werden, dazu braucht es keine Erweiterung des
Datenformats. Was erweitert werden muss, sind die Möglichkeiten der Recherche- und/oder
Präsentationssysteme, um mit digitalisierten Zeitungen vernünftig umgehen zu können.
Das ist m.E. besser,
als zwanzig Jahre darauf zu warten, bis sich Katalogwelt und
Repositorywelt zu einer Einheit verschmolzen haben. Sagte ich zwanzig
Jahre?
Vielleicht sollten wir tatsächlich nicht 20 Jahre warten, sondern es selbst in die Hand
nehmen?
Gerade weil wir uns bei der Spezifizierung des Datenformats an der herrschenden
Katalogisierungspraxis orientiert haben, könnten wir jetzt einen Katalog schaffen, der
allen Bedürfnissen der Digitalisate gerecht wird und zugleich auch analoge Medien
verzeichnen kann. Gleichzeitig bemühen wir uns bei der Spezifizierung von Datenformaten
für digitalisierte Handschriften, Nachlässe und Zeitungen aktuell um größtmögliche
Kompatibilität zu den digitalisierten Drucken, so dass wir sogar die fürchterlich
nutzer-unfreundliche Trennung der Medientypen aufheben könnten. Der Bedarf ist
offensichtlich da, wie man an zahlreichen Meta-Katalogen sieht, und die Voraussetzungen
sind so günstig wie nie, weil genau jetzt für viele Medientypen die Grundsteine zur
Massendigitalisierung gelegt werden (und damit entscheidende Katalogisierungs- und
Formatfragen diskutiert werden). Wenn diese Entscheidungen erstmal wieder zugunsten
irgendwelcher medientypologischer Insellösungen getroffen wurden, können wir wirklich
mindestens 20 Jahre warten, bevor da eventuell wieder was passiert. :)
So, genug fantasiert, schönen Feierabend!
Viele Grüße
Sebastian Meyer
--
Sebastian Meyer
Projekt-Mitarbeiter
Sächsische Landesbibliothek -
Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB)
01054 Dresden
Tel.: +49 351 4677-206
Fax: +49 351 4677-711
http://www.slub-dresden.de/
> -----Ursprüngliche Nachricht-----
> Von: dv-technik-bounces(a)dfg-viewer.de [mailto:dv-technik-bounces@dfg-
> viewer.de] Im Auftrag von Kay Heiligenhaus
> Gesendet: Mittwoch, 24. Februar 2010 18:06
> An: dv-technik(a)dfg-viewer.de; technik(a)dfg-viewer.de
> Betreff: Re: [DFG-Viewer] Strukturdaten für Zeitungen?
>
> Lieber Herr Meyer,
>
> vorneweg: ich kann Ihre Argumente gut nachvollziehen, dennoch meine
> ich, daß wir auf halben Wege stehenblieben, wenn wir nicht auch für
> Zeitungen ein "Standardmodell" schafften, wie wir es bereits für
> Zeitschriften und mehrbändige Werke geschaffen haben. Ansonsten bliebe
> uns nämlich m.E. nur der Ausweg, das Modell für Zeitschriften auch für
> die Beschreibung von Zeitungen zu verwenden, bedeutet: es zu
> mißbrauchen. Kurz zu den konkreten Punkten:
>
> > Ich stimme Ihnen zu, dass wir eine möglichst intuitive und
> übersichtliche
> > Möglichkeit schaffen müssen, wie der Nutzer von einem ZDB-Katalogisat
> > einer Zeitung zu einem konkreten Artikel in einer konkreten Ausgabe
> eines
> > konkreten Jahres kommt. Und wir können uns sogar noch etliche andere
> > Möglichkeiten des Zugangs überlegen - analog zu den Ressorts des
> Spiegels
> > vielleicht auch eine thematische Ordnung der Artikel. Würden Sie dann
> für
> > jeden dieser Zugänge eine eigene structMap bzw. ein eigenes Set auf
> > einander verweisender METS-Dateien anlegen wollen?
>
> Das Argument ist gut, nur: es gilt analog auch für alle andere
> Materialien, die wir im Viewer darstellen. In Monographien könnten uns
> die Gedichte besonders interessieren oder die Illustrationen bestimmter
> Künstler über verschiedene Ausgaben hinweg. In wissenschaftlichen
> Zeitschriften wäre die Werbung evtl. interessant. Das alles läßt sich
> tatsächlich nur auf Portalebene sinnvoll lösen - evtl. geleitet von
> jeweils konkreten wissenschaftlichen Fragestellungen. Dennoch habe wir
> uns auf ein Standardmodell der einheitlichen Anzeige und Erschließung
> (über die verschiedenen Projekte und Portale und Techniken hinweg)
> verständigt, sozusagen auf den Standardaufbau einer Monographie, einer
> Zeitschrift, eines mehrbändigen Werkes. Sie arbeiten gerade mit an
> einem Standardmodell für Handschriften. Gesichtspunkte für diese
> Differenzierungen sind typologische Aspekte: Eine Handschrift ist
> anders aufgebaut als eine Monographie ist anders aufgebaut als ... Mein
> Frage ist nun: Ist eine Zeitung anders aufgebaut als eine Zeitschrift?
> Was unterscheidet die beiden? Wie könnte folglich der Aufbau einer
> Zeitung generalisiert beschrieben werden?
>
> > Das sind meines Erachtens Fragen, die das Recherche-System
> beantworten
> > muss und nicht das Datenformat. Wenn der aktuelle ZDB-Katalog dazu
> nicht
> > in der Lage ist, weil er natürlich primär die analoge Welt abbildet,
> dann muss
> > ein System geschaffen werden, dass das kann (oder die ZDB
> entsprechend
> > angepasst werden).
>
Oh. Oh. Oh. Da klingeln bei mir alle Glocken. Mit
gleichem Recht könnte
man sagen: Weg mit den "klassischen Bibliothekskatalogen". Die sind für
die analoge Welt und müssen nun angepaßt werden. Wir brauchen
Strukturdaten in den Katalogen. Wir brauchen Volltexte in den
Katalogen. Warum diskutieren wir noch über den Umstieg von MAB2 zu
MARC21? Alles Schnee von gestern. Weg mit dem Quatsch. (Ernsthaft
betrachtet ist das gar keine schlechte Überlegung. Die Trennung von
Katalog und Repository könnte tatsächlich irgendwann ganz wegfallen.
Aber wann ist dieses "Irgendwann"? Und sollen wir tatsächlich fordern,
daß sich die Welt um uns herum ändern muß, damit wir auch Zeitungen im
Viewer präsentieren können?)
>
> > Für den Bereich der Monographien soll ZVDD das
> > leisten, für die Zeitschriften könnte man sich eventuell das
> Digizeitschriften-
> > Projekt der SUB Göttingen zum Beispiel nehmen. Das Problem ist also
> nicht,
> > dass das Datenformat unzureichend wäre, um solche Strukturen
> abzubilden,
> > sondern dass es bislang kein System gibt, das die im Format durchaus
> > vorhandenen Informationen entsprechend aufbereitet und visualisiert.
>
Hm. Also lösen ZVDD und DigiZeit die Kataloge als
primäre
Recherchequellen perspektivisch ab? Interessant. Das sag ich demnächst
mal dem einen oder anderen Katalogisierer, den ich so kenne. ;)
>
> > Der Punkt ist, dass ich gerne vermeiden möchte, durch die
> Festschreibung
> > der "äußeren" Navigationsstruktur in der structMap dem Recherche-
> > und/oder Präsentationssystem eine bestimmte Art des Zugangs
> > aufzuzwingen.
>
> Das tut jede Modellierung. Und das ist auch der Sinn einer solchen. Das
> Metaphysische bei der Frage nach der "logischen Struktur" einer Zeitung
> ist doch: Was ist das Modell, das wir den konkreten Erscheinungsformen
> von Publikationen, die wir summarisch Zeitungen nennen, überstülpen,
> damit wir sie unter einem einheitlichen Gesichtspunkt erschließ- und
> präsentierbar machen? Für den Viewer konkretisiert: Wie wünschen wir
> uns eine Standardnavigation durch diese Ansammlung von tausenden von
> Seiten die über Jahrhunderte hinweg in sehr regelmäßiger Form
> erschienen sind?
>
> > Wir sollten diese Diskussion meines Erachtens vom Kontext des DFG-
> Viewers
> > lösen. Der Viewer ist ein reines Anzeigeinstrument und kein
> Recherche-
> > Werkzeug. Entsprechend wird die Suche einer bestimmten
> Zeitungsausgabe
> > aus 18.000 Ausgaben dort immer mühsam und umständlich sein, einfach
> weil
> > man nicht umhin kommt, sich durch die gesamte Zeitung zu hangeln (ob
> nun
> > über den "Umweg" der Jahre, Monate und Wochen oder "direkt"
aus einer
> > endlosen Liste von 18.000 Einträgen).
>
Hm. Das halte ich nicht für sinnvoll. Wir würden damit
für einen
Publikationstyp sagen: Das ist ein Haufen von Seiten in einem Haufen
von Tagen. Anzeigen kann und will ich den nicht.
>
> > Um den Forderungen der DFG gerecht zu werden, haben wir uns mangels
> > geeignetem Recherchesystem für diese Notlösung entschieden, ich würde
> > sie nun aber ungern noch weiter ausweiten. Statt die Notlösung zu
> einer
> > besseren Notlösung zu machen (und uns damit mittelfristig größere
> > Probleme einzuhandeln), sollten wir lieber eine echte Lösung
> anstreben. :)
>
> Nein, das sehe ich nicht so. Wir haben Katalogisierungspraxis und
> digitale Präsentation zusammengebracht. Wie mir scheint, ist dieser
> Ansatz auf einen sehr fruchtbaren Boden gefallen. Das sieht man nicht
> zuletzt an der aktuellen Diskussion. Hintergrund meiner Frage ist ja
> ein konkretes Kundeninteresse. Dieser Kunde hat nämlich auf die
> Viewerseiten geschaut und gesagt: Hm. Zeitungen kann man so aber nicht
> darstellen. Was machen wir denn jetzt? Eine solche Frage kann man nur
> stellen, wenn man verstanden hat, was wir mit unserem Strukturdatenset
> erreichen wollen... ;)
>
> Unterm Strich würde ich sagen: Sollten wir uns nicht darüber
> verständigen, wie Zeitungen konkret zu modellieren sind, dann müssen
> wir m.E. einen neuen Strukturtyp einführen: "other". Dann steht es
> jeder Einrichtung frei, eine Modellierung zu finden, wie sie sie für
> richtig hält, wenn das Viewer-Set eben nicht paßt. Das ist m.E. besser,
> als zwanzig Jahre darauf zu warten, bis sich Katalogwelt und
> Repositorywelt zu einer Einheit verschmolzen haben. Sagte ich zwanzig
> Jahre?
>
> Beste Grüße,
> Kay Heiligenhaus