Lieber Herr Meyer,
Wenn das ernsthaft betrachtet keine schlechte
Überlegung ist, warum
betrachten wir es dann nicht ernsthaft? :) Vielleicht brauchen wir auch nicht
Strukturdaten und Volltexte in den Katalogen der analogen Welt, sondern
analoge Medien in den Katalogen der digitalen Welt? Aktuell gibt es zig
Verbünde, unzählige Lokalsysteme und etliche Spezialverzeichnisse für
diverse Medientypen - alles mit der Begründung, dass die jeweils anderen
Kataloge den Bedürfnissen des Medientyps nicht gerecht werden.
Ich glaube, das kann man nicht alles in einen Topf schmeißen: Daß es verschiedene Verbund-
und Lokalsysteme gibt, hat sehr vielfältige Gründe. Nicht wenige davon sind einfach
Ergebnis gewachsener Strukturen (sein Bibliothekssystem wechselt man halt nicht täglich
wie das Hemd). Und im Kern sind es eben Ergebnisse von Kauf- oder
Entwicklungsentscheidungen über viele Jahre hinweg. So wie es Mercedes, Audi, Volkswagen,
Land Rover, Fiat, ... gibt, so gibt es eben Aleph, PICA, SISIS, Allegro, ... Dann gibt es
eben die konkreten Fragen der Erschließung und Darstellung bestimmter Medientypen. Mit
RAK-WB und MAB2 kommen Sie halt bei Handschriften und Autographen nicht sonderlich weit.
Dafür haben Sie auch keine komplexen Prozesse wie Erwerbung, Ausleihe usw. in diesen
Bereichen zu lösen. Folglich macht es Sinn, für spezielle Medientypen ideale
Erschließungswerkzeuge bereitzustellen. Der Traum, alles passe in einen Katalog, endet
m.E. im Alptraum, daß wir darin nichts relevantes mehr finden, weil wir alle Differenzen
plattgebügelt haben.
Nun werden offensichtlich alle Kataloge den
Bedürfnissen der Digitalisate nicht
gerecht, aber plötzlich sollen sich nicht mehr die Kataloge, sondern die
Digitalisate anpassen...
Da verstehe ich Ihren Punkt noch nicht: Mit dem METS-Profil verfolgen wir doch den
Anspruch, ein komplexes Dokumentenmodell zu etablieren für die Beschreibung
digitalisierter Objekte. Unsere Bezugsgröße ist dabei das Katalogisat der Einheit, über
die wir da Aussagen machen (Aussagen der Art: Das ist deine "physische Form",
das ist deine "logische Form", in dieser Relation stehen diese beiden Formen
zueinander usw.). Man darf sich hier aber von den Begrifflichkeiten nicht verwirren
lassen: "physisch" bedeutet z.B. nicht, daß ein Buch physisch aus Einzelseiten
bestünde. Üblicherweise bestehen Bücher aus Bögen von vier Druckseiten, die z.B.
fadengeheftet sind. Oder von zwei Druckseiten, die in einen Einband geklebt werden. Über
das alles wollen wir mit unserem Modell keine Aussage machen. Unser Ziel ist doch
vielmehr, ein einheitliches Schema vorzugeben für die Digitalisierung, Strukturierung und
Präsentation digitalisierter Medien, damit diese für einen Nutzer einheitlich nutzbar sind
im Netz.
Ich frage mich: wenn man es nicht einmal schafft, alle
analogen Medien
einheitlich in einem einzigen Katalog zu verzeichnen, warum müssen dann
die Digitalisate zwingend in den OPAC, den Verbund oder die ZDB? Natürlich
ist das aus Nutzersicht besser als noch einen neuen Katalog neben das
vorhandene Dutzend zu stellen. Aber dem Nutzer ist auch nicht geholfen,
wenn er dann im Katalog lediglich einen Eintrag für die gesamte Zeitung
findet und sich anschließend mühsam durch etliche Navigationsebenen
hangeln muss, bevor er einen konkreten Artikel auf dem Bildschirm hat. Und
dabei muss immer vorausgesetzt werden, dass er bereits genau weiß,
welche Ausgabe welchen Datums von welcher Zeitung er überhaupt
betrachten will - andernfalls hilft ihm der Katalog und Ihre Strukturierung
nämlich auch nicht weiter.
Hm. Bei Zeitschriften läuft das eigentlich genau so. Ich habe einem bibliographischen
Nachweis (zumeist aus einer wissenschaftlichen Publikation), der mit sagt: Du findest mich
in "Zeitschrift für angewandte Typologie, Jg. 13 (1998), H. 2, S. 19-29". Mit
dieser Information marschiere ich in die Bibliothek. Suche im OPAC. Bestelle eine
Bindeinheit mit einer konkreten Signatur und lege das Teil anschließend auf den Kopierer.
Genau das möchte ich auch in einer digitalen Bibliothek machen können. Nur heißt das hier:
Suche in der ZDB (oder im OPAC). Klick auf den Link zum Viewer. Navigation zum
entsprechenden Artikel. Download eines PDFs oder Lesen am Bildschirm. Es ist schlichtweg
utopisch zu glauben, wir könnten alle historischen Zeitschriften tatsächlich irgendwann
auf unselbständiger Ebene (also Artikelebene) katalogisiert und digitalisiert haben. Dann
entfiele tatsächlich die "mühsame" Navigation zur Fundstelle.
Bei Zeitungen ist es m.E. noch was anderes. Da interessiert mich vielleicht, was an meinem
Geburtstag so in der Welt passiert ist. Oder wie die deutschen Tageszeitungen die
Kriegsausbrüche 1914 und 1939 kommentiert haben. Was schrieb man über die Gründung des
Kaiserreichs? Wie wurde der Einzug Napoleons in Berlin dargestellt? Zeitungen zeichnen
sich schlichtweg durch ihren aktuellen Bezug zum Zeitgeschehen aus. Das gibt ihnen m.E.
eben auch ihre Struktur. Es geht hier um Jahre, Monate, Tage. Darin strukturiert sich
nämlich das Zeitgeschehen, über das berichtet wird.
In sofern sehe ich die Perspektive gar nicht so
unrealistisch, dass ZVDD u.ä.
Systeme künftig tatsächlich die Rolle von primären Katalogsystemen spielen
werden - nur eben nicht für analoge Medien, sondern für Digitalisate. Einfach
deshalb, weil sie dem Nutzer all die Möglichkeiten anbieten, die wir im
Datenformat so mühsam angelegt haben: Volltexte, Strukturdaten,
Beziehungen zwischen den Werken, etc.
Sie vergessen dabei schlicht, daß moderne Bibliothekssysteme integrierte Systeme sind. Der
OPAC ist dabei nur eine Funktionalität unter vielen.
Wie eine solche Standardnavigation aussieht, sollte
aber nicht im
Datenformat festgeschrieben werden, sondern dem Präsentationssystem
überlassen werden (was nicht heißt, dass wir dazu nicht Empfehlungen
formulieren können). Das Datenformat muss nur sicherstellen, dass alle
nötigen Informationen vorhanden sind.
Ich sehe nicht, daß wir durch die Definition von weiteren Strukturdaten für einen
Publikationstyp, der offensichtlich anders aufgebaut ist als diejenigen, mit denen wir uns
bislang intensiver beschäftigt haben, mehr oder andere Festlegungen gemacht werden, als
wir das bisher getan haben.
Es besteht offensichtlich eine Lücke zwischen einer
Zeitung (die im Katalog
nachgewiesen ist) und ihren Ausgaben (die problemlos im Viewer dargestellt
werden können). Diese Lücke muss mit irgendeiner geeigneten Form von
Navigation gefüllt werden, die es dem Nutzer erlaubt, vom Katalogisat der
Zeitung zur Anzeige einer Ausgabe dieser Zeitung zu gelangen. Diese Lücke
im Retrievalsystem ist aber genau das: ein fehlendes Feature der Systeme
und keine Unzulänglichkeit des Formats. Ich sehe das wie Herr Enders: mit
den aktuellen Mitteln kann eine Zeitung bereits modelliert werden, dazu
braucht es keine Erweiterung des Datenformats. Was erweitert werden
muss, sind die Möglichkeiten der Recherche- und/oder
Präsentationssysteme, um mit digitalisierten Zeitungen vernünftig umgehen
zu können.
Ich verstehe auf eine bestimmte Art die Diskussion nicht. Durch das generalisierte
Navigationsmodell in _beliebigen_ Hierarchien haben wir im Viewer alle Voraussetzungen
geschaffen, um auch das hier diskutierte Problem lösen zu können. Es geht hier doch
schlicht um die Frage: Sollen wir weitere Strukturdaten ergänzen, um Zeitungen mit ihren
Spezifika besser darstellen zu können? Es geht nicht darum, daß wir irgendwas am Viewer
erweitern müßten, um dieses Ziel zu erreichen. Technisch ergeben sich hier keinerlei
Anforderungen.
Vielleicht sollten wir tatsächlich nicht 20 Jahre
warten, sondern es selbst in
die Hand nehmen?
Gerade weil wir uns bei der Spezifizierung des Datenformats an der
herrschenden Katalogisierungspraxis orientiert haben, könnten wir jetzt
einen Katalog schaffen, der allen Bedürfnissen der Digitalisate gerecht wird
und zugleich auch analoge Medien verzeichnen kann. Gleichzeitig bemühen
wir uns bei der Spezifizierung von Datenformaten für digitalisierte
Handschriften, Nachlässe und Zeitungen aktuell um größtmögliche
Kompatibilität zu den digitalisierten Drucken, so dass wir sogar die
fürchterlich nutzer-unfreundliche Trennung der Medientypen aufheben
könnten. Der Bedarf ist offensichtlich da, wie man an zahlreichen Meta-
Katalogen sieht, und die Voraussetzungen sind so günstig wie nie, weil genau
jetzt für viele Medientypen die Grundsteine zur Massendigitalisierung gelegt
werden (und damit entscheidende Katalogisierungs- und Formatfragen
diskutiert werden). Wenn diese Entscheidungen erstmal wieder zugunsten
irgendwelcher medientypologischer Insellösungen getroffen wurden,
können wir wirklich mindestens 20 Jahre warten, bevor da eventuell wieder
was passiert. :)
Ich bin da ganz offensichtlich deutlich skeptischer, als Sie es sind. Daß es so viele
spezialisierte Lösungen für unterschiedliche Medientypen gibt, halte ich eben nicht für
das Ergebnis eines irrationalen Prozesses, sondern für das Ergebnis der Arbeit an
spezifischen Problemlösungen, die den Materialitäten unserer Sammlungen geschuldet sind.
Standards kann man nur da etablieren, wo es hinreichende Gemeinsamkeiten gibt. Oder eben
da, wo man sich auf bestimmte Aspekte konzentriert. So ist z.B. die Darstellung von
Metadaten im Viewer m.E. nur deshalb in Ordnung, wie wir sie sehr reduziert machen, weil
es den Kataloglink gibt, über den ich mich als Nutzer über jeden Titel im Detail
informieren kann, wenn ich das möchte.
Ein letzter Aspekt noch: Wir hatten hier vor kurzem eine Diskussion über das
Europeana-Datenmodell. Schaut man sich die ersten Importergebnisse von EuropeanLocal-D im
Netz an, dann sieht man, daß wir das Problem der Darstellung von Zeitungen und
Zeitschriften auch hier bekommen werden. Denn wenn wir das Problem so lösen würden, wie
Sie es hier vorschlagen (das Nachweissystem soll die Hierarchie verstehen und abbilden,
der Viewer dann nur noch die "Endknoten" darstellen können, mehr nicht), dann
würde das für Europeana (und alle anderen Harvestingsysteme) ja analog gelten. Man käme
nicht mehr von der "Hauptaufnahme" zum digitalisierten Gesamtobjekt, sondern
eben immer nur in die konkreten Teilobjekte, deren Struktur im Nachweissystem beschrieben
und navigierbar sein müßte. Die Krux dabei: EuropeanaLocal-D harvested die METS-Daten, die
wir nach unserem Modell zur Verfügung stellen. Wenn sich die Informationen über das
Gesamtobjekt aber nur aus einem noch zu schaffenden "Superkatalog" beziehen
lassen, die Informationen über die Teilobjekte nur aus einem reduzierten Repository, dann
könnte Europeana aktuell: gar nichts harvesten und gar nicht anzeigen von unserer
digitalen Pracht. Bedeutet unterm Strich: Ihr "reduzierter Ansatz" (weg mit den
Hierarchien im Modell) führte dazu, die Komplexität des Problems in zig weitere Systeme zu
verlagern und nicht an einem Ort zu bündeln.
Nehmen Sie als abschließendes Beispiel folgendes:
http://www.europeana.eu/portal/full-doc.html?uri=http://www.europeana.eu/re…
Das ist der Datensatz der Trierischen Chronik in der Europeana. Den Datensatz gibt es auch
im Worldcat:
http://www.worldcat.org/title/trierische-chronik/oclc/263724874
Sollen wir jetzt auch mit OCLC darüber diskutieren, daß Kataloge und Metakataloge
digitalen Medien nicht gerecht werden, nachdem wir die ZDB/EZB-Verantwortlichen davon
überzeugt haben?
Nein, bei allem Nachdenken über Ihre Argumentation bleibe ich dabei, daß es m.E. sehr
sinnvoll ist, wie wir es bislang angegangen sind. Und daß wir auf diesem Wege unser Ziel
am besten erreichen: Hohe Sichtbarkeit digitalisierter Materialien auf Basis eines
ausgesprochen flexiblen, aber durchaus komplexen Standardmodells.
Beste Grüße,
Kay Heiligenhaus